Thorsten Reinicke Büro

Gestaltung und "Ortsbild"


Newsgroup: de.alt.sci.architektur
Subject: Re: Pultdach-Argumente
Date: Tue, 15 Jun 1999

Vorredner:
> Das "Wollen" sollte aber auch eine Begründung haben. Sicherlich kann man am Anfang nicht alles an einem Entwurf begründen, weil man ja auch aus dem Bauch heraus entscheidet. Im Laufe der Entwicklung des Entwurfes sollten sich dann schon Argumente finden, warum man etwas wollte - sonst war es vielleicht doch nicht so eine gute Idee.

Thorsten Reinicke:
Wesentliche Fragen unserer Existenz (Tod, Liebe, Poesie) können wir noch nicht mal erklären, geschweige denn begründen. Sie sind irrational. Warum sollte sich - neben allem Nützlichem - also nicht auch Irrationales in der Architektur finden? Wir wollen leben, wir wollen gestalten. Einfach so. Unbegründet.

> Am schönsten sind doch die Entwürfe, wo man sich gar nicht mehr vorstellen kann, das es auch anders gehen könnte, weil alles seinen Platz hat (everything falls into place). Ist ja auch eine 'klassische' Definition von Schönheit, das nichts mehr hinzugefügt oder weggenommen werden kann ohne das Gesamtbild zu zerstören. Die Teile werden zum ganzen. ...

... womit - nach meiner kleinen Privattheorie :-) - eine Stufe der _Ganzheit_ erreicht ist. Nach meiner Auffassung sollte diese "Klassik" unvollendet sein, d.h. einige "positive Fehler" enthalten. Die eigentliche "Vollendung" entsteht dann im Kopf des Betrachters, und das wiederum macht den Entwurf lebendig. Ist der Entwurf selbst aber schon "perfekt" (soweit das zu erreichen ist ...), dann wirkt er eigentümlich starr und tot. Der Betrachter hat keinen Weg mehr zu gehen.

> Außerdem finde ich die allgemeine, ablehnende Haltung gegenüber Satteldächern etwas traurig. Als sei das Satteldach die Ausgeburt der Spießigkeit, der gestalterische Super-GAU.

Ich habe eigentlich nichts gegen Satteldächer an sich. Nur hat das Satteldach eine Dominanz erreicht, die nicht mehr ok ist. Die Vorstellungswelt vieler Menschen läßt ja kaum noch andere Dachformen (z.B. Tonnendach, Kuppeln, Freiformdächer/ räumlich gekrümmte Flächen) oder Experimente zu.

> Gerade die Dächer oder die Dachlandschaft prägen das Ortsbild, prägen die Landschaft. Jeder Landstrich hat eine typische Dachform, warum sollte man sich nicht daran halten?

Weil wir uns wandeln.

Wir haben neue Erkenntnisse, neue Weltbilder, und wir haben auch neue Baustoffe und neue Planungsmethoden, die den Bau neuer Formen möglich machen. Wir waren vor 30 Jahren auf Mond und bauen derzeit die internationale Raumstation. Wir haben heute ein anderes Bild vom Universum als noch vor hundert Jahren. Die Wissenschaften wandeln sich derzeit vom einem eher mechanistischen, statischen Denken hin zu einem eher komplexen, dynamischen Denken (Chaosforschung, Komplexitätstheorie). Und wir diskutieren hier über mögliche Auswirkungen des Cyberspace auf die reale Architektur. Oder kurz: Die Erde ist nunmal keine Scheibe mehr.

Und trotz allem will die Architektur am Satteldach, wie überhaupt an alten herkömmlichen Bauformen festhalten und sich unter alten Mythen verkriechen? Für ein energiesparendes Bauen beispielsweise ist das Satteldach schlichtweg nicht geeignet (z.B. für die Süd-Ausrichtung des Hauses). Dafür war es auch nie konzipiert. Und mit dem Raum unter dem Satteldach kann man eh nichts anfangen. Man stößt sich nur den Kopf. Und zum Wohnen war dieser Dachraum ursprünglich nie gedacht.

Und überhaupt: Ich sehe zwar viele verschiedene Landschaften, aber überall dieselben Rechtecke mit drübergestülpten Satteldächern (incl. Walmdächer etc.). Was daran ist also "ortstypisch"? Oder was ist an einem Fertighaus ortstypisch, welches sowohl in Nord-, als auch Süddeutschland gebaut wird? (Da werden höchsten andere Balkongeländer rangeklebt ...). Oder nehmen wir die griechische Säule. Die ist einmal um die Welt gewandert und kein Mensch hat sich je drum gekümmert, ob sie nun "ortstypisch" ist oder nicht. Ebenso sind in der Gotik die Ideen quer durch Europa gewandert und wurden überall gebaut. Einige hundert Jahre später macht man dann einen dicken Schnitt und behauptet, daß alles sei nun jeweils "ortstypisch" und dieses "Ortsbild" müsse nun - weitere Entwicklung fast erstickend - auf Gedeih und Verderb erhalten werden. Das ist doch verrückt! Was von dem heute Gebauten wird wohl in hundert Jahren für erhaltenswert erachtet?

> Es wäre schön, wenn man regionale Typologien nicht über Bord wirft und sich an der allgemeinen ver-ort-losung beteiligt, sondern regionale Qualitäten erkennt und in eine moderne Formensprache übersetzt. Das würde Intelligenz und Sensibilität zeigen und Einsicht, daß man an etwas größerem arbeitet als nur an einem Bauwerk, sondern an einer Kulturlandschaft.

Im Grunde ist jeder Ort, jeder einzelne Bauplatz, einzigartig. Geht man auf diese örtlichen Gegebenheiten ein, dann entsteht von allein ein Gebäude, welches "ortstypisch" ist, auch wenn die äußere Form möglicherweise neu sein mag. Sagt man aber von vornherein, diese oder jene Form sei nunmal "ortstypisch" und legt sich hierauf fest, dann entsteht zumeist Häßlichkeit oder riesige Banalität.

Der Ort, das örtliche Klima, neue Baustoffe und -techniken, neue Planungsmethoden, neue Wünsche und Anforderungen, der Aufwand (Preis), unsere Weltanschauung und Denken, das alles muß im Haus zusammengehen (Proportion). Hätte hier nie ein Fortschritt stattgefunden, dann würden wir heute noch in Höhlen und Erdhütten leben.

TR

© 1999 Thorsten Reinicke - Hamburg