transform
Architekturtheorie


Thorsten Reinicke
© 2002, 2018/19 Hamburg
Der Text ist urheberrechtlich geschützt.

Kontakt / Impressum
Datenschutz

STARTSEITE

2 3
Baukultur

Obwohl jeder mit ihren Ergebnissen konfrontiert ist, weiß eigentlich niemand so recht, was denn darunter zu verstehen ist. So fragt die deutsche Bundesstiftung für Baukultur: Baukultur - Was ist das?. Und die Initiative Architektur und Baukultur - gefördert vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen - möchte die Themen Architektur und Baukultur einer breiten Öffentlichkeit näherbringen.

Gewohnheit und Moden

Schon unsere frühen Vorfahren lebten in umbauten Räumen, lange bevor man sich darauf einigte, diese als Architektur zu bezeichnen. Architektur wird täglich erlebt - ob bewußt oder unbewußt. Sie muß nicht nahegebracht werden. Sie ist da.

So gesehen können Architektur und Baukultur nicht zu einem Thema gemacht werden. Gebautes ist Grundlage unserer Zivilisation. Kultur im üblichen Verständnis ist etwas, was aktuell gelebt und gefühlt wird. Sie läßt sich nicht erzwingen. Aber steht es jedem frei, sich mit dem Bauen zu beschäftigen.

Unser heutiges Baugeschehen ist geprägt von gewohnten Vorstellungen, Vorurteilen und stetig wechselnden Moden, die jeweils von vielen Planern gern übernommen werden. Eine Vielzahl von Neubauten sieht immer wieder ähnlich aus. Highlights und gute Architektur sind selten. Bürger äußern sich häufig ablehnend gegenüber neuen Bauten. Es nützt wenig, ihnen einzureden, dies würde an ihrem Unverständnis für Architektur liegen. Denn tatsächlich verstehen sie sehr gut, ob sich Architektur nutzen läßt oder ob sie sie mögen oder nicht. Darüberhinaus muß der Laie Architektur weder können noch ihren Werdegang verstehen. Es reicht völlig, wenn er sie in ihm gefallender Weise nutzen und vielleicht sogar schön finden oder gar bewundern kann. Dies zu erreichen ist der Job des Architekten.

Da dieser Job nicht ordentlich erledigt wurde, oder genauer, oft nicht ordentlich erledigt werden konnte, denn es ist bei weitem nicht allein die Schuld der Architekten, geht es nun um eine breite Diskussion, um eine Mitbestimmung bei der Planung. Was mag dabei herauskommen, wenn Leute mitreden, die von der Form noch weniger Ahnung haben als manche Architekten? Hier Teile der Schlußworte eines Buches zur Geschichte der Architekturtheorie:

Die Leistungen der Architekturproduktion sind gewaltig, aber auch die ausbeuterischen Fehlentwicklungen. Es ist nicht so, dass für das, was schiefläuft, keine Lösungsvorschläge in Sicht wären, sie kollidieren jedoch mit manifesten politischen und ökonomischen Interessen. In ihrer globalen Gesamtheit ist die Architekturproduktion, so scheint es, bestenfalls noch Krisenmanagement.
Welche Bewertungsmaßstäbe gibt es noch in einem Gesamtsystem, bei dem das Hauptdilemma darin besteht, die destruktiven Folgen des Handelns zu minimieren?

Dietrich Erben, Eine Geschichte der Architekturtheorie

Die Davos Deklaration

Im Januar 2018 trafen sich die europäischen Kulturminister in Davos, um die gleichnamige Davos-Deklaration 2018 - Eine hohe Baukultur für Europa zu beraten und zu verabschieden. Das geschah - so wörtlich - in dem Bewusstsein, dass sich überall in Europa ein allgemeiner Verlust an Qualität der gebauten Umwelt und der offenen Landschaften abzeichnet, was sich in einer Trivialisierung des Bauens, in fehlenden gestalterischen Werten und einem fehlenden Interesse für Nachhaltigkeit, in zunehmend gesichtslosen Agglomerationen und verantwortungslosem Landverbrauch, in einer Vernachlässigung des historischen Bestandes und im Verlust regionaler Identitäten und Traditionen zeigt.

Das klingt fast nach einem Totalversagen des Baugeschehens. Ganz so ist es sicher nicht. Natürlich gibt es hervorragende Architekten und hervorragende Bauten. Aber für den weit größeren Bereich des Bauens gilt die Aussage eben doch. Wie erreicht man also eine hohe Baukultur? Läßt sich Kultur überhaupt erzeugen?

Kant

Immanuel Kant unterscheidet zwischen Kultur und Zivilisation. Für ihn sind Mensch und Kultur ein Endzweck der Natur. Damit verbunden ist der kategorische Imperativ: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Als Bedingung für Kultur gilt für Kant die Idee der Moralität. Die trennt den Menschen einerseits von der Natur, andererseits steht er als ihr Endziel in ihrem Dienst dieses Ziel zu achten und zu verfolgen. Menschen sollten ihre Handlungen bewusst auf an sich gute Zwecke einrichten. Ohne diesen moralischen Leitsatz vermöge der Mensch sich bloß technologisch fortzuentwickeln, was zwar zur Zivilisation führe, nicht aber zu Kultur.

Das gilt auch für das Baugeschehen. Wollen wir wirklich, daß unsere Umwelt allgemein so aussieht, wie das Bauvorhaben, welches wir gerade entwerfen, planen und bauen? Unsere Bauten sind zwar technisch gut ausgestattet und erfüllen zumeist die geforderten Funktionen, dennoch beklagen die Kulturminister einen Verlust an Qualität. Es geht offensichtlich um etwas für uns Wesentliches, was über das bloße Bauen hinausgeht. Während meines Studiums fragte uns unser Entwurfsprofessor einmal, als wir ihm unsere Entwürfe vorlegten:

Findet Ihr das schön?

Wert der - schönen - Ästhetik

Ästhetik bedeutet wörtlich die Lehre von der Wahrnehmung und der sinnlichen Anschauung. Ästhetisch ist also alles, was unsere Sinne bewegt: Schönes, Hässliches, Angenehmes, Unangenehmes.

Ich erlebe es wiederholt, daß Menschen meinen, Sie hätten mit Ästhetik nichts zu tun. Gleichwohl neigen wir dazu, uns selbst und unsere Umgebungen in irgendeiner Form zu schmücken, zu verzieren, oder schön und angenehm zu gestalten, auch wenn dies jeweils sehr subjektiv sein mag. Das geht quer durch alle Kulturen und Zeiten, und geht im besten Fall in eine gewisse Vollendung der Form über. Heute läßt es sich bei uns auf Balkonen, Terassen oder in Vorgärten, in Einfamilienhausgebieten und insbesondere in Schrebergärten beobachten. Es wird immer wieder eine besondere individuelle Gestaltung versucht, und sei es nur der berühmte Gartenzwerg.

Ein anderes Phänomen unserer Zeit sind Reisen hin zu alten Bauwerken und ursprünglichen Stadtkernen, die noch original erhalten sind oder entsprechend restauriert wurden. Es werden die Gestaltung, die Proportionen und die Handwerkskunst bewundert, obwohl die mit unserem heutigen Leben kaum noch etwas zu tun haben.

Vieles mag unbeholfen, kitschig, kommerziell oder touristisch sein. Aber es besteht ganz offensichtlich ein Bedarf nach dem, was über den reinen Nutzen hinausgeht und was Menschen jeweils unter Schönheit verstehen.

Gartenzwerge in einem Schrebergarten auf Helgoland Touristen vor dem Papst-Palast in Avignon Touristen im »Schnoor« in Bremen
Fotos: selbst

Der Architekt Heinz Bienefeld hat es treffend formuliert:
»Das Schöne ist für mich ein unabdingbarer Teil unseres Menschseins. Die Abwesenheit des Schönen verursacht Mangelerscheinungen, deren Tragweite bzw. Folgen für die menschliche Substanz nicht abzuschätzen sind«.

Hindernisse

Die Hindernisse, die einer schönen, angenehmen ästhetischen Qualität im Wege stehen können, sind vielfältig. Das können fixe Vorstellungen der Bauherren oder Geldgeber sein; oder nicht mehr zeitgemäße, fehlende oder falsch erstellte Nutzungspläne, Bauvorschriften, Normen und Zulassungen - z.B. für die vom BDA neuerdings propagierten Lehmbauten - ; oder auch simpel Profitstreben, Unfähigkeit oder fehlender Geschmack sein. Einigen genügt auch die gewünschte funktionale und technische Ausstattung eines Gebäudes, ohne daß es besonders schön sein muß.

Von Einfluß sind sicherlich auch die Planungswerkzeuge. In den 70er und 80er Jahren wurde zumeist mit einer waagrechten Reißschiene samt Geodreieck gearbeitet. Es entstanden Häuser, die in Form von vorspringenden Erkern, Balkonen, abgeschrägten Gebäudeecken immer wieder 45°-Winkel aufweisen. Heute bietet der Computer die Möglichkeit, Informationen per Copy & Paste beliebig zu vervielfältigen. Es scheint so, daß bei heutigen Neubauten, Bauteile und Bauteilgruppen immer wieder kopiert und in die Planzeichnungen eingesetzt werden. Beide Methoden führen zu einer gewissen Monotonie.

Die Möglichkeiten, warum sich einem eigentlich erstrebenswerten Guten etwas in den Weg stellen kann, sind vielfältig. Geldmangel läßt sich jedoch ausschließen. Denn auch unter preisgünstigen Bauten gibt es sehr gelungene Beispiele.

Kultur und Kompetenz

Architekten müssen auch künftig die - bauliche - Form vorgeben. Das ist ihre Aufgabe.

Architektur ist die Kunst der Proportion.
Bruno Taut, Architekturtheorie

Es ist unerträglich, wenn Laien - auch Investoren, Bauherren, Politiker und Behörden - hier über das Maß mitbestimmen dürfen, und dies teils sogar aus Architektenkreisen selbst gefördert wird. Das hat nichts mit einem demokratischen Verständnis, sondern mit einer Huldigung der Inkompetenz und Denkfaulheit zu tun. Man stelle sich vor, ein Laie würde einem Chirurgen vorschreiben, wie dieser zu operieren hätte.

Architektur muß frei entwickelt und gebaut werden können. Architekten müssen Gelegenheit erhalten, ihre Gedanken frei zu entfalten. Jede Selbstrechtfertigung oder überlange gestalterische Diskussion mit Laien schmälert die architektonische Kraft. Deren Fehlen wird ja gerade bemängelt.

Ist das Gebäude aber gebaut, dann darf und soll es kritisiert werden. Die geäußerte Kritik muß von der Architektenschaft bitteschön auch wahrgenommen werden. Die darf sich nicht selbstdarstellerisch in ein Wolkenkuckucksheim verziehen.

Das Gute

Es geht um das Streben nach dem an sich Guten. Das geht über die reine Funktion und Ökonomie deutlich hinaus. Es geht auch um die Klarstellung von Positionen, um die Anerkennung und Inanspruchnahme von Kompetenzen, sowie um die Feststellung, wo diese Kompetenzen eben nicht vorhanden sind.

Das ließe sich in der Summe tatsächlich als Baukultur bezeichnen, aus der heraus sich im Laufe der Zeit eine hochwertige bauliche Umwelt entwickeln kann. Die Frage lautet also nicht, Baukultur - was ist das?, sondern vielmehr, Baukultur - wie kann sie entstehen?. Dazu braucht es einen Nährboden und es braucht Zeit.

Zusammenfassung

Für eine hohe Baukultur sollten dafür kompetente Menschen das an sich Gute anstreben und dafür die Möglichkeit erhalten. Zugleich müssen sie sich der Kritik stellen und diese berücksichtigen.

weiter